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Das Kind im Mittelpunkt? Hindernisse für die Konzentration auf die Kinder im pädagogischen Alltag

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Das soll „Kind im Mittelpunkt“ stehen – eine Binsenweisheit der Pädagogik (3,75 Mio. Treffer bei Google). Doch wie gelingt es in Kindertageseinrichtungen wirklich, sich ganz auf das Kind zu konzentrieren? Zahlreiche Studien haben sich in den letzten Jahren mit Qualität in Kitas befasst (z.B. 2013 die NUBBEK-Studie von Tietze et al.) – zu Recht, denn der quantitative Ausbau der Kinderbetreuung (insbesondere für Unter-Dreijährige) in den letzten Jahren in Deutschland alleine ist nicht hinreichend. Die aktuelle Auswertung des Sozioökonomischen Panels von Pia S. Schober und C. Katharina Spieß (2014) zeigt, dass viele Mütter nach der Geburt ihrer Kinder erst dann eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, wenn sie auch von der Qualität des Betreuungsplatzes überzeugt sind.

Offenbar gibt es aber im pädagogischen Alltag eine Vielzahl von Hürden, die die Fokussierung der Fachkräfte auf das Kind behindern. In mehreren studentischen Forschungsarbeiten waren diese Hindernisse nun Thema, so dass ich die Untersuchungsergebnisse von Gabi Dillenburger, Ulrike Breyer und Sylvia Richter zum Anlass nehmen möchte, das Thema auch aus meiner Sicht einmal in den Blick zu nehmen.

Hindernisse für die Konzentration auf die pädagogische Arbeit liegen offenbar auf mehreren Ebenen:

1. Rahmenbedingungen/Strukturen:

Ein wesentliches Problem liegt in der Vielzahl von Aufgaben, die zum heutigen Arbeitsalltag von Erzieherinnen gehören und den im Gegensatz dazu geringen Zeitressourcen. So empfinden viele pädagogische Fachkräfte, dass die Anforderungen an sie deutlich gestiegen sind, sie aber gleichzeitig nicht mehr Zeit zur Verfügung haben. Tatsächlich hat sich der Personalschlüssel bundesweit in den letzten Jahren jedoch eher positiv entwickelt: War eine Fachkraft in einer Gruppe mit Kindern ab 3 Jahren 2006 für 10 Kinder zuständig, waren es 2012 8,1 Kinder (Bertelsmann Stiftung 2014)

Eine Untersuchung von Gabi Dillenburger (2014) in fünf hessischen Einrichtungen macht jedoch deutlich, dass der Personalschlüssel den Arbeitsalltag nur zum Teil abbildet. Entscheidend ist daneben, wie Überstunden und Vertretungen geregelt werden (oft gar nicht) und welche Zeitkontingente den pädagogischen Fachkräften neben der Zeit in der Gruppe für Vor- und Nachbereitung, Teamsitzungen, Vernetzung mit Schule und dergleichen, Fort- und Weiterbildung, Elterngespräche usw. zur Verfügung gestellt werden. Oftmals werden diese Aufgaben als Überstunden angerechnet und können dann nur abgebaut werden, indem in der Gruppe zeitweise weniger Personal vorhanden ist. Und schließlich hängt die Belastung auch damit zusammen, welche Rand-Aufgaben den pädagogischen Fachkräften außerdem zufallen, etwa die Zubereitung der Mahlzeiten, die Raumpflege (= Putzen) oder der Instandhaltung der Einrichtung (z.B. Malerarbeiten). Je nach Größe der Einrichtung können auch diese Aufgaben einen erheblichen Anteil einnehmen.

Ebenfalls Teil der Rahmenbedingungen ist die wachsende Orientierung an quantitativ erfassbaren Leistungen. Standardisierte Beobachtungsverfahren nehmen die Leistungen (im Sinne schulischer Leistungen) von Kindern genau in den Blick. Hier entsteht eine deutliche Anforderung an pädagogische Fachkräfte, die durch optimale Förderung die Entfaltung der Fähigkeiten und Talente jedes einzelnen Kindes ermöglichen und diese Förderaktivitäten umfangreich dokumentiert, analysiert und zurückmelden sollen.

2. Prozesse/Organisation:

Auch die Kita-Organisation kann die Konzentration auf die Kinder behindern. Gerade die Tatsache, dass Zuständigkeiten oft nicht klar abgegrenzt sind, schafft Probleme. In vielen Einrichtungen sind Kitaleitungen auch im Gruppendienst tätig und nicht völlig freigestellt; eine Verwaltungskraft, die sich nur um administrative Dinge kümmert, ist meist nicht vorgesehen. So sind für viele Aufgaben alle ein bisschen zuständig und müssen diese in den Alltag mit den Kindern integrieren. Sicher ist das nicht nur negativ, denn wenn Kinder auch die organisatorischen Abläufe miterleben, die beispielsweise einem Sommerfest vorausgehen, kann das eine Quelle für Erfahrungen und Diskussionen sein. Doch auch dies hat seine Grenzen – sonst wird vor allem eine Erfahrung unter dem Motto „Erwachsene im Stress“ daraus. Innerhalb dieser engen personellen Grenzen gibt es darüber hinaus Gestaltungsräume, die sehr unterschiedlich genutzt werden. Von der grundsätzlich offenen Arbeit über gruppenübergreifende Angebote bis hin zur Rhythmisierung des Tages können Abläufe und Organisationsformen geschaffen werden, die eine Konzentration auf die Kinder in unterschiedlichem Maße ermöglichen. Wie der Text von Sylvia Richter (2014) (Verfügbar unter: http://www.kindergartenpaedagogik.de/2282.pdf) verdeutlicht, sind es eben auch die selbstgeschaffenen Strukturen bzw. vor allem deren Fehlen, die eine befriedigende Arbeitsorganisation verhindern.

3. Haltungen/Kultur:

Maßgeblichen Einfluss auf den Grad der Fokussierung auf die Kinder haben aber auch die Einstellungen der pädagogischen Fachkräfte. Die Forschungsergebnisse von Ulrike Breyer (2014) zeigen, dass eine Interaktionssituation mit Kindern manchmal eben doch nicht ganz so ernst genommen wird, so dass ein Morgenkreis mal eben unterbrochen wird, weil ein „wichtiger“ Anruf vom Essenslieferanten kommt oder eine vertiefte Spielsituation zugunsten der geplanten Bastelaktion abrupt beendet wird.

Eine Frage der Haltung ist es aber auch, was die Pädagog*innen unter der „Arbeit am Kind“ verstehen. So beschreibt Gabi Dillenburger, dass insbesondere Beobachtung und Dokumentation, pflegerische Aktivitäten und spontane Elterngespräche als besonders belastend und störend empfunden werden. Sind denn diese Dinge nicht Teil der „eigentlichen“ pädagogischen Arbeit? Über dieses offensichtliche Missverständnis des Kerns der Arbeit von Pädagog*innen im Elementarbereich besteht sicher Diskussionsbedarf. Viel wichtiger finde ich aber, sich Gedanken darüber zu machen, warum die Pädagog*innen eine solche Priorisierung vornehmen. Und da bietet der Bezug zur oben geschilderten Ebene der Rahmenbedingungen eine mögliche Erklärung: Wenn die Qualität pädagogische Arbeit vor allem an statistisch erfassbaren Leistungen der Kinder gemessen wird, dann ist für diese „Begleitmusik“ eben kein Raum mehr. In der Prioritätenliste steht dann die lästige Dokumentation ganz hinten, ist der Windelwechsel oder die Insulin-Spritze eine Unterbrechung der wirklich wichtigen Arbeit und das Tür-und-Angel-Gespräch mit der besorgten Mutter ein mehr oder weniger nutzloses Add-On. Strukturelle Bedingungen können damit ein entscheidender Faktor sein, der zu einer Hintanstellung bestimmter Aufgaben führt. Diese (rationale!) Prioritätensetzung sollte vor dem Hintergrund der professionellen Entwicklung des Elementarbereichs kritisch hinterfragt werden.

Die Konsequenzen aus den beschriebenen Entwicklungen sind klar: Bestimmte Aufgaben werden nicht mehr angemessen wahrgenommen und einzelne Personen finden nicht mehr die Aufmerksamkeit, die sie benötigen. So kann eben auch schnell die Situation entstehen, dass Kinder in der Schublade „Störenfried“ landen (und dort nur schwer wieder herauskommen), dass stillere Kinder kaum noch wahrgenommen werden, dass belastete Kolleg*innen eben nicht mehr vom Team aufgefangen werden können – das System kippt.

Situation, die für alle Beteiligten unbefriedigend ist, denn sie entspricht gerade dem nicht, was für viele pädagogische Fachkräfte zentrales Motiv für die Berufswahl war.

Das hier gezeichnete Szenario mag düster aussehen – es spiegelt aber zumindest einen Teil der Alltagswirklichkeit von deutschen Kindertageseinrichtungen 2014 wider.

 

Literatur

Bertelsmann Stiftung: Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme: http://www.laendermonitor.de/uebersicht-grafiken/index.nc.html

Ulrike Breyer. 2014. Wodurch werden die Pädagoginnen in der Arbeit mit dem Kind unterbrochen? Unveröffentlichte Seminararbeit an der Hochschule Fulda.

Gabi Dillenburger. 2014. Auswirkungen zeitlicher Ressourcen auf die Qualität pädagogischer Arbeit in Kindertagesstätten aus Sicht der Fachkräfte. B.A.-Arbeit Hochschule Fulda.

Sylvia Richter. 2014. Chaos im Büro – ein Spiegelbild des Teams? Das Kita-Büro als Ausgangspunkt von Teamentwicklung. http://www.kindergartenpaedagogik.de/2282.pdf

Pia S. Schober und C. Katharina Spieß. 2014. Die Kita-Qualität ist für das Erwerbsverhalten von Müttern mit Kleinkindern relevant – Zusammenhang eindeutiger in Ostdeutschland, Studie des DIW 2014: http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.465060.de/14-21-1.pdf

Wolfgang Tietze, Fabienne Becker-Stoll, Joachim Bensel, Andrea Eckhardt, Gabriele Haug-Schnabel, Bernhard Kalicki, Heidi Keller und Birgit Leyendecker (Hrsg.). 2013.
 Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit (NUBBEK). Berlin.


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